Montag, 9. Juni 2008

Der Wolf reisst das Schaf

Jenaz_090608


Heute wird in der Wollspinnerei Vetsch das Garn produziert. Erstmals kommt so etwas wie Produktionsdruck auf, will alles sorgfältig geplant sein. Präparation: Zeichner spitzen Stifte, Maler rüsten Pinsel, mischen die Pigmente, richten die Staffelei ein... und wir schlagen uns mit Gebrauchsanweisungen komplexer digitaler Aufnahmegeräte herum; Harddisc-Audio Recording, Jecklin-Scheibe, Stative, Akkus wollen geladen werden...Die Videokamera ist mit Funktionen versehen, die das Bild entzerren... auch hier das überbordende an zu vielen und unsinnigen Möglichkeiten, das Selektioneren ist mühsam (und wird wohl demnächst als Hauptkompetenz in vielen Bereichen gefragt sein).Wir fahren nach Jenaz, um die ganzen Produktionsschritte der Herstellung des Garns aufzunehmen und wollen dies ohne künstliches Licht bewerkstelligen.


Betritt man die Wollspinnerei Vetsch, wähnt man sich zurückversetzt in frühindustrielle Zeit: Ein dunkler Raum, unsere Augen gewöhnen sich nur langsam an das spärliche Licht (Augen, die helle Bildschirme und überstrahlend weisse Wände gewohnt sind...), ein ganz eigener Geruch, noch nie gerochen, an nichts wirklich erinnernd, auf nichts vergleich-bares verweisend, nicht unangenehm. Wohl von der Rohwolle, dann aber mischt sich auch etwas metallisch-maschiniges hinein... Grosse Papiersäcke mit Rohwolle, Ballen mit gefärbter Wolle stehen herum, Maschinen rattern, und gäbe es Motten (die es hier ja zum Glück nicht gibt), sie würden um die Lampen fliegen. 


Die mit grossen Lederriemen angetriebenen Kardmaschinen versetzen in Staunen; vom „Wolf“, eine mit eindrucksvollen Zähnen bestückte Trommel, wird die Rohwolle in Flocken zerrissen, über mehrere Walzen -  u.a. dem „Krempel“, bei dem Verunreinigungen aussortiert werden - mit immer feineren Kämmen in feinste Fasern zu einem Vlies verarbeitet. Dieses Vlies wird nochmals zu feineren und flauschigeren Fasern gekämmt, die dann zum Faden gedreht werden. 


Das folgende Zwirnen, bei dem zwei oder mehr fertig gesponnene Fäden schnell und locker in entgegengesetzter Richtung zusammengedreht werden geschieht auf einer nicht minder beeindruckenden Maschinerie; da werden Fäden über grosse Distanzen zusammengeführt, auch hier das Kontinuum der Maschinengeräusche, ein Heben und Senken der Spulen und Hülsen.


Beeindruckend die Mechanik, das feine Zahnradgetriebe, eigentlich unvorstellbar die dauernden Verfeinerungsprozesse, die zu diesen Maschinerien geführt haben. Wie mag das Staunen (und das Fürchten) gross gewesen sein in dieser frühen Maschinenzeit. Hier steht die ganz grosse analoge,ratternde, riechende Technologie, und in meiner Hand der kleine digitale Fotoapparat, ohne analogen Sucher, gleich elektronisches Bild, kein Rattern und kein Klicken, dafür elektronisch nachgebildete Sounds als aufmerksamkeitserregende Bestätigungssignale.



In der Wollspinnerei Vetsch findet man noch eines jener seltenen Unternehmen, unter dessen Dach der gesamte Produktionsprozess vom Rohprodukt, der Schafwolle, bis zum Endprodukt, der Kardwolle von statten geht. Bündner Schafwolle (und nicht nur in dieser Schweizer Gegend) wird heute in der Regel verbrannt, die Verarbeitung, vor allem der aufwändige Waschvorgang, ist nicht rentabel. So wird – und dies zum Grossteil – auch zusätzlich Wolle aus Übersee, vor allem aus Neuseeland, verarbeitet. In der Person von Christoph Vetsch (er führt in vierter Generation die Wollspinnerei) glauben wir jenen Unternehmertypen anzutreffen, wie er vom Soziologen und Kulturphilosophen Richard Sennett in seinem Buch „Handwerk“ geschildert wird; als ein Mann, der sein Handwerk im wortwörtlichen Sinne versteht, das heisst hier herrschen noch keine fragmentierten Fertigkeiten, zumindest bei ihm, der alles im Griff behalten muss, von der Wartung der Maschine bis zu den feinsten Handgriffen mit dem Garn. Auch bei den Mitarbeiterinnen sehen wir ein eigentliches Hand-Werk, der Umgang mit Faden verlangt sorgfältige Aufmerksamkeit. Überhaupt haben wir den Eindruck, uns hier in einer Art Zeitreise zu befinden: Der etwas düstere Raum der Wollspinnerei als eine Art „Dombauhütte des Wollgarns“.