Sonntag, 6. April 2008

Steine in der Luft

Jenaz_060408
Bei dichtem Schneegestöber erreichen wir am Vormittag Jenaz. Es ist unser zweiter Besuch, der erste eigentliche Aufenthalt. Sonntagmorgendliche Stille auch hier – Pendler schlafen aus. Wir sind gespannt und angespannt zugleich; gespannt, weil jeder fremde Ort viel Neues, Unbekanntes birgt, das es zu entdecken gilt, angespannt andererseits aber auch ob der Leere, gibt es doch noch keine greifbare Idee, keinen „Auftrag“, nichts wirklich Fassbares. Fernab kunstbetrieblicher Hektik kommen wesentliche Fragen auf: Braucht es Kunst – besonders hier – überhaupt, braucht es „künstlerische Interventionen“, kann nicht alles selbstgenügsam (ver)bleiben? Reflektionen, nach Innen, nach Aussen. Was wir nicht haben, auch nicht wollen: Mit einer vorgefertigten Idee im Gepäck ankommen, diese an Ort und Stelle ausführen, dem Ort überstülpen – eine Zwangsbeglückung oder Ortsmöblierung mit Kunst. Vielmehr möchten wir aus den situativen Gegebenheiten schöpfen, um daraus eine Idee wachsen zu lassen... „Nee die Ideen“... (vorwärts und rückwärts zu lesen...)
„Die Leere“ – so der Philosoph Martin Heidegger in seinem Essay Die Kunst und der Raum – „ist mit dem Eigentümlichen des Ortes verschwistert und darum kein Fehlen, sondern ein Hervorbringen. Wiederum kann uns die Sprache einen Wink geben. Im Zeitwort „leeren“ spricht das „Lesen“ im ursprünglichen Sinne des Versammelns, das im Ort waltet. Das Glas leeren heisst: es als das Fassende in sein Freigewordenes versammeln. Die aufgelesenen Früchte in einen Korb leeren heisst: ihnen diesen Korb bereiten. Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel. In der plastischen Verkörperung spielt die Leere in der Weise des suchend-entwerfenden Stiftens von Orten.“
Nach einem ausgiebigen Frühstück bei unseren Gastgebern Sara und Samy Bill Smidt erkunden wir das Dorf, streifen durch die Gassen und staunen über das viele Brennholz vor den Häusern – gespaltenes, noch junges Holz als heller Kontrast zu dem verwitterten und ‚versonnten’ dunklen Holz der Häuser. Wir versuchen die Sprüche an den Fassaden zu entziffern. An einem jungen Obstbaum hängen Steine. Ein starkes Bild: Steine in der Luft. Wir mutmassen über den Zweck dieser Aktion. Sollen dadurch wohl die Zweige des noch jungen Obstbaumes in die gewünschte Richtung gebogen werden? Klebt man heute eigentlich Säuglingen immer noch die Ohren fest, damit sie schön anliegend wachsen? Wir denken an Boris Nieslony’s Stein-Aktionen (er bringt einen hängenden Stein mittels Atem in Bewegung, er rollt sich mit einem Stein einen leeren Bachlauf der versiegten Quelle entgegen...) und wollen den Baum für ihn fotografieren. Am Kirchhof erzählt uns ein alter Mann, dass er des Schnees wegen auf dem Grab die Blumen abdecken musste. Das sei dieses Frühjahr nun schon das zweite Mal. Wir lesen die Namen und Zahlen auf den Grabsteinen. Das Kircheninnere protestantisch nüchtern, nichts sakral Anmutendes, kein Bild, kein Tuch, nur Wort. Und ein Klavier. Das Dorf ist schnell durchschritten; egal welche Richtung man einschlägt, man gelangt immer wieder zum grossen Brunnen am Platz. Ein auffallend verschachteltes Dorfbild ergibt sich durch die unterschiedliche Ausrichtung der Häuser; es scheint keine bestimmende Himmelsrichtung zu geben. Ein exaktestens zugeschnittener Stapel Brennholz fällt uns auf. Auch eng kann es hier sein. Die Häuser im Talboden zeugen am ehesten noch von einer gewissen, allerdings vergangenen Weltläufigkeit. Ein leerstehender Gasthof hier, ein Haus mit Handwerksbetrieb steht zum Verkauf, die Wände des Bahnhof-Wartehäuschen sind mit pornographischen Schüler-Sprüchen überzogen. Anschlagbretter (hier wirklich noch aus Holz gefertigt) künden Vereinsanlässe und Schultheater-Aufführung an. Im Internet haben wir auf der Homepage der Gemeinde Jenaz erfahren, dass ein Containerschiff einer dänischen Reederei den Namen Jenaz trägt – „Jenaz auf allen 7 Weltmeeren“ leuchtet uns in Laufschrift, gelb auf blauem Grund, entgegen. Die Vorstellung, dass ein Schiff mit dem Namen Jenaz über den Atlantik navigiert, hat etwas Befremdliches und Grossartiges zugleich; ein Bergdorf auf dem weiten Meer. Seit einiger Zeit arbeiten wir mit Hochseetauen, beschäftigen uns mit der Kulturgeschichte des Seiles, ausgelöst durch eine Beobachtung eines Seilmachers in Willisau/ Kanton Luzern: aus einer Art Säbeutel heraus zwirnte der vor und zurück tänzelnde Seilmacher Hanffäden zu einem Seil, sozusagen aus dem Bauch heraus wird Welt geschöpft. Ohne Seil keine Architektur, ohne Seil keine Kartoffel in Europa....Am Nachmittag schreiben wir am Text für Peter Trachsel, denn morgen Abend treffen sich die Gemeindepräsidenten aller beteiligten Gemeinden in Dalvazza und da soll die erste Broschüre über das „Museum in Bewegung – 14 Räume für die Kunst“ vorliegen. Wir lesen die Landkarte und listen die Flurnamen von Jenaz auf. Flurnamen geben beredt Auskunft über die kleinräumigen Landschaften, daraus lassen sich oft Nutzung und Gebrauch, Beschaffenheit, auch Besitzer der Wiesen, Wäder und Weiden lesen. Und sie klingen! Obersäss, Runggalätsch, Mundjer Wald, Valapint...
Jenaz, Montag 7. April 2008
Jenaz, morgens tief verschneite Landschaft. V. muss früh weg – mit den Pendlern ist er unterwegs. Noch dunkel. Ich falle nochmals in einen Tiefschlaf. Werde durch den Schneepflug geweckt. Versuche im Schneegestöber den Baum mit den Steinen zu fotografieren. Spaziere durch die winterliche Landschaft nach Pragg. Es schneit noch fein, aber durch die Wolken erscheint eine milchige Sonnenscheibe. Ich komme, ohne dass ich es gewollt habe, am Schulhaus vorbei. Einige Kinder wechseln von der Turnhalle ins Schulhaus. Sie wissen nicht, wie sie mir begegnen sollen, lachen verlegen oder reissen dumme Sprüche. Überall wo ich hingucke, fällt Schnee von Bäumen und Leitungen und zerstiebt in feine Wolken. Ich lese im Schaufenster der Weberin Sonja Luck einen Zeitungsbericht über ihre Teppiche. Eine rote Katze hüpft auf das Fenstersims und bettelt nach Streicheleinheiten, in dem sie mich die ganze Zeit mit dem Kopf anstösst. Bei der Wollspinnerei Vetsch suche ich vergebens nach einer Klingel. Ich klopfe an die Tür und warte. Die Katze hat mich wieder gefunden und wartet mit mir. Nach wiederholtem Klopfen öffne ich die Holztür zur Produktionshalle. Die Maschinen laufen nicht, nur eine Lüftung rauscht. „Blauer Montag“ – gilt das auch hier? Die Redewendung „blauer Montag“ soll aus der Praxis des Textilfärberwesens entstanden sein: die gefärbten Stoffe wurden in einer letzten Phase des Färbevorgangs an der Luft getrocknet, wobei erst in dieser Phase durch Oxidierung die blaue Färbung entsteht. Weil die Blaufärber in dieser Phase mit der Arbeit pausiert hätten, wäre aus dem technischen Vorgang des Blaumachens ein allgemeinsprachlicher Ausdruck für „Nichtstun“ entstanden, und auch der Ausdruck Blauer Montag soll hieraus abzuleiten sein, weil der Montag der übliche Tag für diese Phase des Blaufärbens gewesen sei. Auf meine Hallo-Rufe meldet sich niemand. Ich verlasse den Raum wieder, und wundere mich, dass die Tür offen ist. Hier im Prättigau scheint es noch üblich zu sein, dass man die Türen nicht abschliesst. Inzwischen haben sich die Wolken verzogen und die Sonne blendet in dieser zauberhaften Winterlandschaft, so dass ich die Augen zusammenkneifen muss.
Seit unserem ersten Besuch geht uns die Wollspinnerei und -färberei nicht mehr aus dem Kopf. Und wir sinnieren über das Produkt, welches dort hergestellt wird, den Faden. Der rote Faden - in Hochseetauen ist er eingearbeitet, eine Art Markierung. Wozu dient ein Faden? Er hat keinen klaren Auftrag. Er ist ein Ding im Wartezustand, ein Ding dazwischen, zwischen Knopf und Jacke zum Beispiel. Er verbindet den Knopf mit der Jacke, aber ohne die beiden, ist und bleibt er nur ein Faden. Als „roter Faden“ steht er für das Mittel der Verbindungen und Zusammenhänge verschiedenster Genres unterschiedlichster Couleur. Und sollte der Faden einmal verloren gehen, kann er wieder aufgenommen werden. Der rote Faden sorgt dafür, dass der Sinn nicht verloren geht. Der Faden schafft Beziehungen, Verknüpfungen, Netzwerke schlechthin.
Wieder in Bern, erkunden wir uns über die Produktionsbedingungen der Fadenherstellung bei der Wollspinnerei und -färberei Vetsch in Pragg-Jenaz. Ein das Prättigau umspannender „roter Faden“ aus der Wollspinnerei könnte ein „das Museum in Bewegung, 14 Räume für die Kunst“ verbindendes Element sein, und die einzelnen Gemeinden und ihre Künstler damit umgarnen. Wir entwickeln die Idee, besorgen uns ein Kartenrad, um die Wanderwege auf der 1:25000er Landkarte virtuell abzuschreiten und die Distanzen zu übertragen. Ein hundert Kilometer langer Wollfaden soll von uns – einem roten Faden gleich – wandernd durchs Prättigau gelegt werden, von Gemeinde zu Gemeinde, bis alle beteiligten Ortschaften miteinander verbunden sind. Die Wollspinnerei Vetsch bekommt die Anfrage, aus der Wolle von einheimischen Schafen einen hundert Kilometer langen Wollfaden zu spinnen und diesen rot einzufärben. Dafür braucht man ca. 60 Kilogramm Schafwolle. Das Scheren eines Schafes ergibt etwa drei bis vier Kilogramm Wolle. Also braucht man die Wolle von fünfzehn bis zwanzig Schafen. Die gesamten Herstellungskosten des einhundert Kilometer langen „roten Faden“ belaufen sich auf dreitausend Franken. Am 17. April liegt ein voluminöser, aber leichter Briefumschlag im Postkasten in Bern. Das Muster eines roten, wetterfesten Wollfadens ist eingetroffen, versehen mit der erfreulichen Zuschrift von Herrn Vetsch, eine solch wunderliche Anfrage hätte er nun doch noch nie erhalten, er würde sich aber über Erteilung des Auftrages sehr freuen. Wir legen sofort den Faden in unserem Garten aus, testen ihn auf Reissfestigkeit und Wetterbeständigkeit... und erteilen den Auftrag.
Und haben nun endlich auch eine Lösung, wo und wie man uns Künstler aus Jenaz begegnen kann: Im Prättigau. Man stifte mit einem Beitrag von hundertfünfzig Franken symbolisch die Wolle eines Schafes und begleite uns auf fünf Kilometern des „Prättigauer Rundweges“ beim Auslegen des roten Fadens. Mit zwanzig Sponsoren ist das Projekt finanziert.

Keine Kommentare: