Dienstag, 30. Dezember 2008

2009 Was für 'ne Sorte Zeit?

"So wollt Ihr mir Zeit verkaufen?"
"Zeit? Bloß so Zeit? Nein, mein Guter, das ist keine Teufelsware. Dafür verdienten wir nicht den Preis, dass das Ende uns gehöre. Was für 'ne Sorte Zeit, darauf kommts an! Große Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit, in der es hoch und überhoch hergeht, – und auch wieder ein bisschen miserabel natürlich, sogar tief miserabel, das gebe ich nicht nur zu, ich betone es sogar mit Stolz, denn so ist es ja recht und billig, so ists doch Künstlerart und -natur." (Thomas Mann, Doktor Faustus)





Im Jahr 2009 setzen wir das Projekt "Faden_Zeit" fort.

Zentral steht dieses Jahr die Rekonstruktion der Blumenuhr von Carl von Linné (1707 - 1778) an: Ein Jenazer Garten oder ein Stück Feld wird mit Blumen bepflanzt, deren Blüten sich zu ganz bestimmten Uhrzeiten öffnen und schliessen.


Vorbehaltlich Änderungen sind wir an folgenden Wochenenden in Jenaz:

10./11. Januar 2009
28. Februar/ 1. März 2009
4./ 5. April 2009
9./ 10. Mai 2009
12./ 13./ 14. Juni 2009

Für weitere Informationen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung

Valerian Maly & Klara Schilliger
Falkenhöheweg 15, CH - 3012 Bern
T/ +41 (0) 31 301 44 42; +41 (0)79 231 66 12
valerian.maly@gmx.ch

Die Künstler





Klara Schilliger & Valerian Maly
+41 (0)79 231 66 12


ihre Gastgeber:

Sara und Sami Bill
7233 Jenaz



Die beiden heute in Bern lebenden Künstler Klara Schilliger (*1953 in Sursee) und Valerian Maly (*1959 in Tübingen) arbeiten seit 1984 gemeinsam in den Bereichen Performance Art und Installation. Für einige spezifische Werke (meist mit direktem Einbezug des Publikums) verwenden sie neuerdings den Begriff der „InstallAction“.
Die intermediären Installationen und Performances sind oft – nicht ausschliesslich – ortsbezogene Interventionen, denen projektbezogene Recherchen vorausgehen.
So entwickeln sie in der Regel für jeden Aufführungsort oder Ausstellungsraum kontextbezogene Werke, die sich in bester Tradition in intermediären Bereichen gestalten; immer mittendrin und nie dazwischen.
Im Prättigau konnten sie auf Einladung von Peter Trachsel/ dieHasena – Institut (für) fliessenden Kunstverkehr – schon zwei Arbeiten realisieren. Zum einen drehten sie 1999 mit einer Schulklasse aus Pany und einer Klasse aus Köln das Video „Pany Streifen – Köln Streifen“ (die Kinder, ausgestattet mit einer High-End-Kamera, reichten – einem Staffenttenlauf gleich – die laufende Kamera weiter und filmten ihren Schulweg), zum anderen waren sie 2004 im Rahmen von „Fremde im Prättigau“ drei Wochen in der Gegend von St.Antönien mit ihrem Projekt „Mit fremden Federn schmücken“ unterwegs (ein Klavier wurde in seine Einzelteile zerlegt, und überall dort, wo sie auf ihren Wanderungen eine Vogelfeder fanden, tauschten sie diese mit einem Klavierhämmerchen, Klaviersaite oder Dämpfungsfilz aus). Klara Schilliger und Valerian Maly bewegen sich selbstverständlich zwischen den verschiedenen Genres der Künste, ohne aber vermeintlich verlockender multimedialer Überfrachtung zu verfallen: „Es gilt einen Standort zu finden inmitten der Turbulenzen der Werte, aus denen Kunst entspringt.“ (Harold Rosenberg, The Tradition of the New, N.Y. 1960)

Nun sind wir gespannt und angespannt zugleich; gespannt, weil jeder fremde Ort viel Neues, Unbekanntes birgt, das es zu entdecken gilt, angespannt andererseits aber auch ob der Leere, gibt es doch noch keine greifbare Idee, keinen „Auftrag“, nichts wirklich Fassbares. Fernab kunstbetrieblicher Hektik kommen wesentliche Fragen auf: Braucht es Kunst – besonders hier – überhaupt, braucht es „künstlerische Interventionen“, kann nicht alles selbstgenügsam (ver)bleiben? Reflektionen, nach Innen, nach Aussen. Was wir nicht haben, auch nicht wollen: Mit einer vorgefertigten Idee im Gepäck ankommen, diese an Ort und Stelle ausführen, dem Ort überstülpen – eine Zwangsbeglückung oder Ortsmöblierung mit Kunst. Vielmehr möchten wir aus den situativen Gegebenheiten schöpfen, um daraus eine Idee wachsen zu lassen... „Nee die Ideen“... (vorwärts und rückwärts zu lesen...)„Die Leere“ – so der Philosoph Martin Heidegger in seinem Essay Die Kunst und der Raum – „ist mit dem Eigentümlichen des Ortes verschwistert und darum kein Fehlen, sondern ein Hervorbringen. Wiederum kann uns die Sprache einen Wink geben. Im Zeitwort „leeren“ spricht das „Lesen“ im ursprünglichen Sinne des Versammelns, das im Ort waltet. Das Glas leeren heisst: es als das Fassende in sein Freigewordenes versammeln. Die aufgelesenen Früchte in einen Korb leeren heisst: ihnen diesen Korb bereiten. Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel. In der plastischen Verkörperung spielt die Leere in der Weise des suchend-entwerfenden Stiftens von Orten.“
Klara Schilliger und Valerian Maly, Jenaz 06.04.08

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Traubenzeit

Jenaz_26.–28.09.08_Präsentation_Apéro

Bei spätsommerlichem Wetter (oder ist nun doch schon Herbst?) hängen wir die Kleinplakate für den Apéro an die paar über die Gemeinde verstreuten Anschlagbretter. Einmal sind sie an einem Schuppen, ein ander Mal direkt an Hauswände montiert. Übersät mit Heftklammern, Reisnägeln und kleinsten Papierfetzen künden die verwitterten Bretter von vergangenen Veranstaltungen. Hier findet sich der Seniorennachmittag neben der Ankündigung für das Dorftheater, die Pragger Buramusik hängt neben einem Plakat mit böse drein blickenden Männern in Leder- und Nierenkluft der Heavy-Metal Band Judas Priest (dass es die noch gibt, die gabs ja schon in den 70ern!!!). Vereinzelt finden sich aber auch Vermisstanzeigen von weggelaufenen Büsis oder halbgewerbliche Angebote von Landmaschinen. Ein Biker-Club plant eine zweitägige Pässefahrt und wir planen den Apéro, an dem wir die Bevölkerung über unser Vorhaben informieren wollen.

Auf unserem Spaziergang durchs Dorf stellen wir fest, dass vom ausgelegten Faden bis auf ein paar Fragmente nicht mehr viel zu finden ist. Obwohl wir vom Gemeindepräsidenten Urban Mathis informiert worden waren, dass unser Projekt nicht von allen Gemeindemitgliedern in gleichem Masse geschätzt wird, sind wir nun doch etwas irritiert. Wir sind froh, inzwischen die Gewissheit zu haben, dass der ausgelegte Faden keinerlei Risiko für Vieh und Wild darstellt. Laut Auskunft der Wiederkäuerklinik Bern fressen Kühe zwar unselektiv, der Faden werde aber mit Sicherheit beim malmen brechen. Und Dr. Brosi, Leiter des Amtes für Jagd und Fischerei Graubünden schätzt das Risiko für das Wild oder auch für Kleintiere als äusserst gering ein. Es käme schon mal vor, dass die Tiere mit Abzäunungsbändern spielen (dieses seien allerdings aus Plastik und daher reissfest), sich darin verhaspeln, er sieht aber bei dem Wollfaden nun wirklich keine Bedenken, wichtig sei einfach, dass der Faden locker ausgelegt, also nicht gespannt sei. Wir stellen uns vor, wie jemand den Faden aufgewickelt haben muss und halten schmunzelnd Ausschau nach dem ersten Paar blutrot gestrickter Socken. Um 11 Uhr haben wir uns mit Herrn Pfarrer Hesse verabredet, um uns und unsere Arbeit vorzustellen. Es ergibt sich ein angeregtes und interessantes Gespräch. Wir erfahren, warum die Kirche ausserhalb des Dorfes liegt, vermutlich eine sehr frühe Einsiedelei, erfahren aber auch, dass in Jenaz die Kirchgänger nicht mehr sehr zahlreich sind, die Gewohnheiten hätten sich eben geändert, unsere Generation fahre lieber an den Gardasee oder habe andere Verpflichtungen. Wir bitten Pfarrer Hesse, den Apéro in der Kirche anzukündigen, wozu er gerne bereit ist.  

Am Samstag arbeiten wir im alten Schulhaus und bereiten unsere Präsentation vor. Wiederum sind wir angetan von der Ruhe und der Atmosphäre, die das Schulzimmer ausstrahlt. Wir legen Bildmaterial und Texte zum Thema „Faden_Zeit“ aus und präsentieren das „Jenazer Taschentuch“ und unsere Edition mit Anteilschein zum roten Faden. Im Auftrag der Gemeinde kaufen wir Wein, Käse und Brot. Das verschafft uns auch Einblick in einen imposanten Käsekeller: Im „Schlössli“ - einem städtisch anmutenden Palais inmitten stattlicher Strickhäuser - wird in den Kellergewölben, hinter dicken Mauern Käse von den Jenazer Alpen Alpnova und Larein gelagert. Frau Luzi führt uns durch die Gewölbe, erklärt uns die verschiedenen Reifestadien der Käse und erzählt vom Haus und dessen Erbauer.

Am Sonntag nun ist es soweit. Die Fenster werden noch mit Transparentfolien beklebt, auf denen sich Wörter wie „Zeitkappe“, „Fadenzähler“ und „Zeitirrlicht“ vor die Landschaftsausschnitte schieben. Der Um Viertel nach elf treffen die ersten BewohnerInnen von Jenaz im alten Schulhaus ein. Nach einer kurzen Einführung – wie immer schweifen wir auch ab – erläutern wir unsere „Faden_Zeit“, unsere verschiedenen Vorhaben. Auffallend, besonders in dieser Jahreszeit, sind ja in Jenaz die üppigen und liebevoll gepflegten Gärten. Und so planen wir ab nächstem Jahr auch einen gärtnerischen Beitrag zu leisten, in dem wir eine Rekonstruktion von Carl von Linnés Blumenuhr in einem Jenazer Garten anlegen. Am Öffnen und Schliessen der Blüten verschiedener Blumen nämlich kann man die Tageszeit ablesen: Sandmohn, Reiherschnabel, Sommeradonis, Ackergauchheil, aber auch Ringelblume, Habichtskraut, Zaunwinde und Pfingstnelke sind Zeitanzeiger. 

Wir erläutern aber auch, woher der Begriff des „roten Faden“ stammt (als eine Art Markierung wurden in die Seile der britischen Marine rote Fäden eingedreht) und berichten von unserem Plan, ein Hochseetau der Werft in Szczecin (PL) nach Marseille, also vom baltischen Meer ans Mittelmeer zu transportieren, und wir eventuell eine Station mit dem Tau in Jenaz einplanen. Auch haben wir durch einen glücklichen Zufall vier Tage zuvor an der Preisverleihung für Peter Trachsel einen Gewährsmann kennengelernt, der uns beredt Auskunft geben konnte über den Frachter, der den Namen der Gemeinde Jenaz trägt: „Maersk Jenaz – Sailed from Auckland Australia on September 14 with destination Balboa (Panama Canal) where she is expected to arrive September 29. The ship is presently in navigation in the South Pacific Ocean at about one day of navigation time until she will be passing between South of Galapagos and Equator. She is loaded with 1089 containers out of which 7 are empty and 360 are refrigerated. 21 crew members + 2 cadets on board. Master: Captain José Luis Schaefli, born 1960, swiss national, residing in Argentinia“. 

Diese erste offizielle Begegnung mit der Bevölkerung war – wie wir finden – eine sehr schöne Zusammenkunft. Vieles wurde erst jetzt greifbar, und zur Erheiterung trug dann auch Urban Mathis mit launigen Worten bei – ihm gefalle das Projekt, gäbe es doch genug und auch Amüsantes zu reden.  

Mittwoch, 24. September 2008

Apéro "einfädeln - ausfädeln"



Einladung zum Apéro

 

Sonntag, 28. September, 11.15 Uhr

im alten Schulhaus Jenaz

 

Die beiden in Jenaz tätigen Künstler Klara Schilliger und Valerian Maly informieren über den aktuellen Stand ihres Projektes „Faden_Zeit“ für das Museum in Bewegung.

 

Auch präsentieren sie ihre erste Edition, das „Jenazer Taschentuch“ zum Teilprojekt „einfädeln – ausfädeln“.

 

Für das gleichnamige Projekt mit dem roten Faden können Anteilscheine erworben werden.


1 Schaf ≈ 3 KG Wolle ≈ 5 KM Garn ≈ CHF 150.-  

Donnerstag, 14. August 2008

AGENDA SEPTEMBER





aus einer früheren Arbeit im Prättigau:
fremd bin ich eingezogen fremd ziehe ich wieder aus















Wir sind wieder in Jenaz anzutreffen vom 25.-28. September 2008. 
Für eine Begegnung rufen sie uns an: 079 2316612

Dienstag, 12. August 2008

z' Fade schlo

Jenaz_070808_080808

Heute reisen wir ins Prättigau, um den roten Faden von der Wollspinnerei Vetsch aus in die Landschaft zu legen. Aus dem bergseitigen Fenster der Produktionshalle lassen wir uns von Christoph Vetsch die erste Fadenspule reichen. Ein denkwürdiger Moment, wird doch dieser rote Faden nicht nur den von uns abgeschrittenen Wegrändern entlang liegen, sondern hier in ein paar Jahren auch wieder – vom anderen Ende her – mit der Produktionshalle verknüpft.  Das Abrollen des Fadens evoziert eine uns unbekannte neue Art des Gehens. Der Faden zwingt zu einer bisher nicht erfahrenen Langsamkeit. Die Körperhaltung, durch das Fadenabnehmen von der Rolle, ist eine neue – eigentlich geht man fast seitwärts dabei. Man schaut auf den Boden, nimmt Details wahr, rollt den Faden nicht einfach nur aus, sondern platziert ihn ganz bewusst am Wegrand, zwischen Grashalme, hinter einen Zaun, an eine Böschung. Eine gänzlich neue Wahrnehmung stellt sich ein. Quarzhaltiges Gestein mit kristallinen Formen glitzert am Wegrand, distelartige Pflanzen, Früchte am Boden, Beeren an Sträuchern, Falter flattern auf den roten Faden und fahren ihre Saugrüsselchen aus. Im Müleggitobel hört man zwar das Rumpeln des nahen Kieswerkes, der visuelle Eindruck aber versetzt uns in Stimmung von Wildnis, hochgeschossenes Grün, ein Stück Wald, das noch nicht oder nicht mehr kultiviert, genutzt wird. Das Handy klingelt und gleichzeitig erblickt Klara auf Kopfhöhe im hochgeschossenen Grün einen alten roten Faden! Erklärbar ist das nicht. 

Wir brechen ab, als wir an eine offene Weide kommen: was passiert, wenn die Kühe den Faden fressen? Wir wissen es nicht, wir wollen jeden Schaden verhindern. Wir werden das abklären. Auf dem Weg zurück zum alten Schulhaus von Jenaz, unserem „Basislager“, wo die Wolle eingelagert ist, legen wir noch ein Stück Faden aus und werden prompt von einem vorbeifahrenden Passanten gefragt, was das denn soll mit dem roten Faden... das Gespräch ist eröffnet! Nach unseren Ausführungen zeigt sich ein verstohlenes, ja schelmisches Lachen im Gesicht. 

Im Schulzimmer erwarten wir bald Besuch: Peter Trachsel ist heute mit Flurin Camenisch, der als Gutachter des Verbandes der Museen der Schweiz waltet, in den bisherigen Räumen für die Kunst, dem Museum in Bewegung unterwegs - es geht um die Anerkennung und Aufnahme in das Register der Schweizer Museen. Ihm, sowie Urban Mathis (Gemeindepräsident von Jenaz) und Christian Gerber (Stiftungsrat dieHasena) erläutern wir unser Projekt „Faden-Zeit“ - ein work in progress, von dem es bisher nicht sehr viel Sichtbares gibt, aber einiges an Konzeptuellem schon „z’Fade gschlage“ ist.

Am kommenden Tag arbeiten wir in unserem Schulzimmer und entwerfen das „Jenazer Taschentuch“: Auf ihm werden alle bekannten Wege (übertragen von der Landkarte 1:25000) sowie einige „Trampelpfade“ der Gemeinde Jenaz eingestickt sein. Nun geht es an die technische Realisation – kein einfaches Unterfangen.








Montag, 7. Juli 2008

Blutrot

Jenaz_070708


Heute wird das Garn gefärbt. Blutrot. Der "Rote Faden" entsteht im Dampf vor unseren Augen und der beschlagenen Linse. Im Dampf auch drehen sich die Gedanken um die nächsten Schritte: Wie und wo legen wir den Faden aus. Wie kommunizieren wir das? Kommunizieren wir das überhaupt? Wie aber dann weiter mit den Anteilscheinen? Ein Eindruck verfestigt sich, der Faden soll uns die nächsten Jahre begleiten, auf den Wegen, den offiziellen und den inoffiziellen. Von Zeit zu Zeit legen wir den Faden aus, auf Strassen, Wanderwegen, Katzen. und Trampelpfaden er taucht auf und verschwindet wieder einfädeln - ausfädeln. Wer möchte, kann uns begleiten, uns seinen Weg, seine Winkel und Pfade, auf dem grossen Gemeindegebiet von Jenaz zeigen. 

Zwei Begriffe sind Ausgangspunkt unserer Interventionen und Recherchen, „Zeit“ und „Faden“ –„Faden_Zeit“ der übergeordnete Titel.  Der rote Faden ist ein Teilprojekt im Hintergrund, das jetzt zwar im Vordergrund steht, für uns aber als so etwas wie Diskussionsgrundlage und als Kommunikationsmedium zur Bevölkerung dienen soll. Andere Teilprojekte zu den Begriffen „Zeit“ und „Faden“ sind in Planung, wie beispielsweise die Rekonstruktion von Carl von Linné’s Blumenuhr in einem Jenazer Garten (unter dem Begriff Blumenuhr versteht man die Zeitbestimmung anhand der geöffneten Blüten unterschiedlicher Pflanzenarten, wie es in der Chronobiologie untersucht wird - eine praktische Anwendung von Naturbeobachtungen, die heute unter dem Begriff Phänologie zusammengefasst werden). Und im erweiterten Sinne des Fadens wird uns das Seil beschäftigen. Da ist das Hochseetau aus Szczecin (PL), mit dem wir gearbeitet haben, das nun, auf seinem Weg quer durch Europa, von der baltischen See ans Mittelmeer, möglicherweise auch in Jenaz Station machen wird. Darin eingedreht findet sich auch der rote Faden, ursprünglich eine Seilmarkierung der englischen Marine. Da ist aber auch das in Pragg-Jenaz ansässige Unternehmen Seiljob, das Spezialaufträge am Seil, Schweiss- und Metallarbeiten  ausführt. Und es gibt eine Gruppe von Frauen, die das Handwerk des Klöppelns in „unserem“ Schulzimmer im alten Schulhaus Jenaz pflegen. Alles mögliche Anknüpfungspunkte (schon wieder die Fadenmetaphorik in der Sprache)Der rote Faden wird nun also fertig gestellt, eine Partie wurde schon vorab gefärbt und wird morgen in unser Schulzimmer geliefert werden. Dort werden wir auch den Gemeindepräsidenten Urban Mathis treffen.

Montag, 9. Juni 2008

Der Wolf reisst das Schaf

Jenaz_090608


Heute wird in der Wollspinnerei Vetsch das Garn produziert. Erstmals kommt so etwas wie Produktionsdruck auf, will alles sorgfältig geplant sein. Präparation: Zeichner spitzen Stifte, Maler rüsten Pinsel, mischen die Pigmente, richten die Staffelei ein... und wir schlagen uns mit Gebrauchsanweisungen komplexer digitaler Aufnahmegeräte herum; Harddisc-Audio Recording, Jecklin-Scheibe, Stative, Akkus wollen geladen werden...Die Videokamera ist mit Funktionen versehen, die das Bild entzerren... auch hier das überbordende an zu vielen und unsinnigen Möglichkeiten, das Selektioneren ist mühsam (und wird wohl demnächst als Hauptkompetenz in vielen Bereichen gefragt sein).Wir fahren nach Jenaz, um die ganzen Produktionsschritte der Herstellung des Garns aufzunehmen und wollen dies ohne künstliches Licht bewerkstelligen.


Betritt man die Wollspinnerei Vetsch, wähnt man sich zurückversetzt in frühindustrielle Zeit: Ein dunkler Raum, unsere Augen gewöhnen sich nur langsam an das spärliche Licht (Augen, die helle Bildschirme und überstrahlend weisse Wände gewohnt sind...), ein ganz eigener Geruch, noch nie gerochen, an nichts wirklich erinnernd, auf nichts vergleich-bares verweisend, nicht unangenehm. Wohl von der Rohwolle, dann aber mischt sich auch etwas metallisch-maschiniges hinein... Grosse Papiersäcke mit Rohwolle, Ballen mit gefärbter Wolle stehen herum, Maschinen rattern, und gäbe es Motten (die es hier ja zum Glück nicht gibt), sie würden um die Lampen fliegen. 


Die mit grossen Lederriemen angetriebenen Kardmaschinen versetzen in Staunen; vom „Wolf“, eine mit eindrucksvollen Zähnen bestückte Trommel, wird die Rohwolle in Flocken zerrissen, über mehrere Walzen -  u.a. dem „Krempel“, bei dem Verunreinigungen aussortiert werden - mit immer feineren Kämmen in feinste Fasern zu einem Vlies verarbeitet. Dieses Vlies wird nochmals zu feineren und flauschigeren Fasern gekämmt, die dann zum Faden gedreht werden. 


Das folgende Zwirnen, bei dem zwei oder mehr fertig gesponnene Fäden schnell und locker in entgegengesetzter Richtung zusammengedreht werden geschieht auf einer nicht minder beeindruckenden Maschinerie; da werden Fäden über grosse Distanzen zusammengeführt, auch hier das Kontinuum der Maschinengeräusche, ein Heben und Senken der Spulen und Hülsen.


Beeindruckend die Mechanik, das feine Zahnradgetriebe, eigentlich unvorstellbar die dauernden Verfeinerungsprozesse, die zu diesen Maschinerien geführt haben. Wie mag das Staunen (und das Fürchten) gross gewesen sein in dieser frühen Maschinenzeit. Hier steht die ganz grosse analoge,ratternde, riechende Technologie, und in meiner Hand der kleine digitale Fotoapparat, ohne analogen Sucher, gleich elektronisches Bild, kein Rattern und kein Klicken, dafür elektronisch nachgebildete Sounds als aufmerksamkeitserregende Bestätigungssignale.



In der Wollspinnerei Vetsch findet man noch eines jener seltenen Unternehmen, unter dessen Dach der gesamte Produktionsprozess vom Rohprodukt, der Schafwolle, bis zum Endprodukt, der Kardwolle von statten geht. Bündner Schafwolle (und nicht nur in dieser Schweizer Gegend) wird heute in der Regel verbrannt, die Verarbeitung, vor allem der aufwändige Waschvorgang, ist nicht rentabel. So wird – und dies zum Grossteil – auch zusätzlich Wolle aus Übersee, vor allem aus Neuseeland, verarbeitet. In der Person von Christoph Vetsch (er führt in vierter Generation die Wollspinnerei) glauben wir jenen Unternehmertypen anzutreffen, wie er vom Soziologen und Kulturphilosophen Richard Sennett in seinem Buch „Handwerk“ geschildert wird; als ein Mann, der sein Handwerk im wortwörtlichen Sinne versteht, das heisst hier herrschen noch keine fragmentierten Fertigkeiten, zumindest bei ihm, der alles im Griff behalten muss, von der Wartung der Maschine bis zu den feinsten Handgriffen mit dem Garn. Auch bei den Mitarbeiterinnen sehen wir ein eigentliches Hand-Werk, der Umgang mit Faden verlangt sorgfältige Aufmerksamkeit. Überhaupt haben wir den Eindruck, uns hier in einer Art Zeitreise zu befinden: Der etwas düstere Raum der Wollspinnerei als eine Art „Dombauhütte des Wollgarns“.  


Montag, 26. Mai 2008

So tönt's im Prättigau

Jenaz_100508
Herrlicher Sonnenschein empfängt uns im frühlingshaften Jenaz. Die Bäume, die Wiesen, die Gärten – alles blüht. Kaum zu glauben, aber vor einem Monat lag hier noch viel Schnee. Unsere Gastgeber sind mit den Vorbereitungen zum „Ineluege“ (Tag der offenen Tür) in ihrem Heim beschäftigt. Ab drei Uhr nachmittags wird der Bevölkerung von Jenaz die Gelegenheit geboten, das renovierte und mit viel Liebe umgebaute Haus zu besichtigen und bei Speis und Trank im Garten zu verweilen. Auch wir sind eingeladen und werden die Gelegenheit nutzen, mit den Leuten des Dorfes in Kontakt zu treten.
Vorerst aber sind wir mit Herrn Vetsch von der Wollspinnerei verabredet. Mit ihm möchten wir die Wollproduktion für unser Projekt mit dem roten Faden besprechen. Auf dem Weg dorthin staunen wir über das Schwärmen der Maikäfer, in den Obstbäumen vernehmen wir das Summen der Bienen, beim Bach die rollenden Steine - the real „rolling stones“, von fern auch das Rauschen der Umfahrungsstrasse; „so tönt’s im Prättigau“ auch (eine Musikkassette gleichen Titels mit Volksmusik gibt’s bei der Pro Prättigau).
Zusammen mit Peter Trachsel gehen wir zur Wollspinnerei. Als erstes bietet uns Herr Vetsch an, seinen Betrieb zu zeigen. Mit grossem Interesse verfolgen wir seine Führung durch den kleinen Familienbetrieb und sind fasziniert davon, dass hier die gesamte Produktion von der Rohwolle bis zur Strange unter ein und demselben Dach stattfindet – also vom Schafspelz bis zum eingefärbten Faden. Rohwolle, noch ganz fettig, wird zum Waschen geschickt, später dann bei Vetsch mit dem „Wolf“ (eine beeindruckende Maschinerie mit vielen Zähnen) auseinander gezupft und zum feinsten Faden verarbeitet. Ausführlich erklärt er uns die einzelnen Produktionsschritte, denn wir möchten den gesamten Herstellungsprozess auf Video festhalten. Wir einigen uns auf einen Termin anfangs Juni.

Nach der Besichtigung besprechen wir unser geplantes Projekt mit Peter Trachsel. Er äussert Bedenken bezüglich unserer Arbeit mit dem roten Faden, meint, sie könnte falsch interpretiert werden: als Der rote Faden, der die einzelnen Gemeinden des Prättigau verbindet. Zum Teil hat er ja auch Recht; es muss für „Ein Museum in Bewegung – 14 Räume für die Kunst“ etwas darüber hinaus Verbindendes und Verweisendes zwischen den Orten und den Künstlern geben, als es sich in einem „roten Faden“-Produkt manifestieren würde. Natürlich darf der rote Faden nicht zum „Logo“ verkommen, sollte nicht Aufhänger für die Presse sein, vielmehr stellen wir uns den roten Faden als ein beiläufiges, unauffällig- auffälliges Ereignis vor, ein Erscheinen und Verschwinden, ein auch zeitlich gestaltetes Ein- und Ausfädeln. Der rote Faden ist dünn, kein Band. Und wird auch übersehen werden. Wir liefern damit ein Bild, das vertraut ist, aber genug Freiraum für weitere, auch komplexe, vielschichtige „Fadenspiele“ lässt. Einfädeln – ausfädeln, zu nicht voraussehbarer Zeit an unbestimmtem Ort - nichts anderes. Der rote Faden als Markierung eines Hochseetaus... Vielleicht führt uns der Faden ja auch in komplett andere Richtungen. Ausgangspunkt, Umkreisungspunkt und Ziel ist und bleibt Jenaz über die nächsten sechs Jahre. Der kaum sichtbare rote Faden ist ja nicht das alleinige Projekt, „Zeit“ und „Faden“ sind unsere Themen, die uns die nächsten sechs Jahre begleiten, in Jenaz sichtbar werden. Ein Hochseetau wird von Aussen nach Innen und von Innen nach aussen getragen, das Fadenarchiv im alten Schulhaus eingerichtet...Gut und wichtig, dass wir darüber gesprochen haben.

Im Garten unserer Gastgeber angekommen, finden wir viele interessierte Leute vor, die die Gelegenheit nutzen, einen Blick ins Innere des Hauses uf Hasatrog zu werfen. Und wir wiederum nutzen die Gelegenheit, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Einige haben bereits an der Gemeindeversammlung von unserer Anwesenheit vernommen und kommen mit uns ins Gespräch. Einige stellen auch ganz gezielte Fragen zu unserem Projekt.


Jenaz, Sonntag 11. Mai 2008
Heute ist Wandern angesagt. Gehend lässt es sich gut überlegen. Und so überdenken wir nochmals unser Projekt. Wir überqueren die Landquart und steigen den gegenüberliegenden Berg hinauf, so dass wir unser Gastdorf immer vis à vis haben. Aus der Ferne kann man das ganze Dorf auf einen Blick betrachten. Liegt es nicht schön auf dieser Terrasse, eingebettet zwischen den Obstbäumen? Wir stellen uns vor, wie aus der Wollspinnerei ein Faden herauskommt, wie aus einem Bauch heraus, immer länger und länger wird und sich durch die Landschaft schlängelt. Ein Faden aus der Wolle der Schafe, welche in dieser Landschaft stehen. Die Wolle, die aus der Landschaft kommt, wird wieder in der Landschaft verteilt. Wir steigen höher und höher, über uns die kreisenden Hängegleiter, auch sie steigen höher und höher. Beim Gehen fällt das Denken leicht. Uns ist klar: Die Arbeit mit dem Faden soll realisiert werden.

Jenaz, Mittwoch 14. Mai 2008
Heute in der Früh fahre ich nochmals nach Jenaz. Ich will im Gemeindehaus das Jenazer Heimatbuch holen. Zu meiner Freude liegt dort auch noch ein Buch mit allen Flurnamen der Gemeinde. Es ist sofort klar, dass es für uns als Arbeitsmaterial unentbehrlich sein wird.
Dann gehe ich der Hauptstrasse entlang nach Pragg. Ich habe die Absicht, in der Wollspinnerei rohe ungewaschene Schafwolle zu holen. Diese brauchen wir, um kleine Schachteln damit zu füllen, welche als Edition für die Erwerber der Anteilscheine bestimmt sind.
Ein Platz macht uns neugierig: Im Jenazer Heimatbuch stossen wir auf den Hinweis, dass es auf Haderegg einen Seiler gab. Weil dort kein genügender Platz vorhanden war, spannte er seine Seile über das Töbeli hinüber. Dank dem Buch mit den Flurnamen finde ich die Haderegg und suche den Ort auf.

Bern, Montag 26. Mai 2008
Unser Gastgeber aus Jenaz hat uns inzwischen per email unterrichtet, dass er an der Theateraufführung mit Urban Mathis, dem Gemeindepräsidenten ins Gespräch kam. Der Gemeindevorstand sei vom Projekt einstimmig begeistert und könne sich vorstellen, ein Schaf zu sponsern. Ausserdem plant der Gemeindevorstand einen zweitägigen Grenzumgang mit Übernachtung auf der Alp, und lädt uns ein, mitzukommen. Heute ein nettes Telefonat mit Urban Mathis gehabt, im Herbst sei das geplant. Möglich, dass wir dann von der Wollspinnerei aus einen Teil des Fadens im Furner Tobel auslegen
.

Sonntag, 6. April 2008

Steine in der Luft

Jenaz_060408
Bei dichtem Schneegestöber erreichen wir am Vormittag Jenaz. Es ist unser zweiter Besuch, der erste eigentliche Aufenthalt. Sonntagmorgendliche Stille auch hier – Pendler schlafen aus. Wir sind gespannt und angespannt zugleich; gespannt, weil jeder fremde Ort viel Neues, Unbekanntes birgt, das es zu entdecken gilt, angespannt andererseits aber auch ob der Leere, gibt es doch noch keine greifbare Idee, keinen „Auftrag“, nichts wirklich Fassbares. Fernab kunstbetrieblicher Hektik kommen wesentliche Fragen auf: Braucht es Kunst – besonders hier – überhaupt, braucht es „künstlerische Interventionen“, kann nicht alles selbstgenügsam (ver)bleiben? Reflektionen, nach Innen, nach Aussen. Was wir nicht haben, auch nicht wollen: Mit einer vorgefertigten Idee im Gepäck ankommen, diese an Ort und Stelle ausführen, dem Ort überstülpen – eine Zwangsbeglückung oder Ortsmöblierung mit Kunst. Vielmehr möchten wir aus den situativen Gegebenheiten schöpfen, um daraus eine Idee wachsen zu lassen... „Nee die Ideen“... (vorwärts und rückwärts zu lesen...)
„Die Leere“ – so der Philosoph Martin Heidegger in seinem Essay Die Kunst und der Raum – „ist mit dem Eigentümlichen des Ortes verschwistert und darum kein Fehlen, sondern ein Hervorbringen. Wiederum kann uns die Sprache einen Wink geben. Im Zeitwort „leeren“ spricht das „Lesen“ im ursprünglichen Sinne des Versammelns, das im Ort waltet. Das Glas leeren heisst: es als das Fassende in sein Freigewordenes versammeln. Die aufgelesenen Früchte in einen Korb leeren heisst: ihnen diesen Korb bereiten. Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel. In der plastischen Verkörperung spielt die Leere in der Weise des suchend-entwerfenden Stiftens von Orten.“
Nach einem ausgiebigen Frühstück bei unseren Gastgebern Sara und Samy Bill Smidt erkunden wir das Dorf, streifen durch die Gassen und staunen über das viele Brennholz vor den Häusern – gespaltenes, noch junges Holz als heller Kontrast zu dem verwitterten und ‚versonnten’ dunklen Holz der Häuser. Wir versuchen die Sprüche an den Fassaden zu entziffern. An einem jungen Obstbaum hängen Steine. Ein starkes Bild: Steine in der Luft. Wir mutmassen über den Zweck dieser Aktion. Sollen dadurch wohl die Zweige des noch jungen Obstbaumes in die gewünschte Richtung gebogen werden? Klebt man heute eigentlich Säuglingen immer noch die Ohren fest, damit sie schön anliegend wachsen? Wir denken an Boris Nieslony’s Stein-Aktionen (er bringt einen hängenden Stein mittels Atem in Bewegung, er rollt sich mit einem Stein einen leeren Bachlauf der versiegten Quelle entgegen...) und wollen den Baum für ihn fotografieren. Am Kirchhof erzählt uns ein alter Mann, dass er des Schnees wegen auf dem Grab die Blumen abdecken musste. Das sei dieses Frühjahr nun schon das zweite Mal. Wir lesen die Namen und Zahlen auf den Grabsteinen. Das Kircheninnere protestantisch nüchtern, nichts sakral Anmutendes, kein Bild, kein Tuch, nur Wort. Und ein Klavier. Das Dorf ist schnell durchschritten; egal welche Richtung man einschlägt, man gelangt immer wieder zum grossen Brunnen am Platz. Ein auffallend verschachteltes Dorfbild ergibt sich durch die unterschiedliche Ausrichtung der Häuser; es scheint keine bestimmende Himmelsrichtung zu geben. Ein exaktestens zugeschnittener Stapel Brennholz fällt uns auf. Auch eng kann es hier sein. Die Häuser im Talboden zeugen am ehesten noch von einer gewissen, allerdings vergangenen Weltläufigkeit. Ein leerstehender Gasthof hier, ein Haus mit Handwerksbetrieb steht zum Verkauf, die Wände des Bahnhof-Wartehäuschen sind mit pornographischen Schüler-Sprüchen überzogen. Anschlagbretter (hier wirklich noch aus Holz gefertigt) künden Vereinsanlässe und Schultheater-Aufführung an. Im Internet haben wir auf der Homepage der Gemeinde Jenaz erfahren, dass ein Containerschiff einer dänischen Reederei den Namen Jenaz trägt – „Jenaz auf allen 7 Weltmeeren“ leuchtet uns in Laufschrift, gelb auf blauem Grund, entgegen. Die Vorstellung, dass ein Schiff mit dem Namen Jenaz über den Atlantik navigiert, hat etwas Befremdliches und Grossartiges zugleich; ein Bergdorf auf dem weiten Meer. Seit einiger Zeit arbeiten wir mit Hochseetauen, beschäftigen uns mit der Kulturgeschichte des Seiles, ausgelöst durch eine Beobachtung eines Seilmachers in Willisau/ Kanton Luzern: aus einer Art Säbeutel heraus zwirnte der vor und zurück tänzelnde Seilmacher Hanffäden zu einem Seil, sozusagen aus dem Bauch heraus wird Welt geschöpft. Ohne Seil keine Architektur, ohne Seil keine Kartoffel in Europa....Am Nachmittag schreiben wir am Text für Peter Trachsel, denn morgen Abend treffen sich die Gemeindepräsidenten aller beteiligten Gemeinden in Dalvazza und da soll die erste Broschüre über das „Museum in Bewegung – 14 Räume für die Kunst“ vorliegen. Wir lesen die Landkarte und listen die Flurnamen von Jenaz auf. Flurnamen geben beredt Auskunft über die kleinräumigen Landschaften, daraus lassen sich oft Nutzung und Gebrauch, Beschaffenheit, auch Besitzer der Wiesen, Wäder und Weiden lesen. Und sie klingen! Obersäss, Runggalätsch, Mundjer Wald, Valapint...
Jenaz, Montag 7. April 2008
Jenaz, morgens tief verschneite Landschaft. V. muss früh weg – mit den Pendlern ist er unterwegs. Noch dunkel. Ich falle nochmals in einen Tiefschlaf. Werde durch den Schneepflug geweckt. Versuche im Schneegestöber den Baum mit den Steinen zu fotografieren. Spaziere durch die winterliche Landschaft nach Pragg. Es schneit noch fein, aber durch die Wolken erscheint eine milchige Sonnenscheibe. Ich komme, ohne dass ich es gewollt habe, am Schulhaus vorbei. Einige Kinder wechseln von der Turnhalle ins Schulhaus. Sie wissen nicht, wie sie mir begegnen sollen, lachen verlegen oder reissen dumme Sprüche. Überall wo ich hingucke, fällt Schnee von Bäumen und Leitungen und zerstiebt in feine Wolken. Ich lese im Schaufenster der Weberin Sonja Luck einen Zeitungsbericht über ihre Teppiche. Eine rote Katze hüpft auf das Fenstersims und bettelt nach Streicheleinheiten, in dem sie mich die ganze Zeit mit dem Kopf anstösst. Bei der Wollspinnerei Vetsch suche ich vergebens nach einer Klingel. Ich klopfe an die Tür und warte. Die Katze hat mich wieder gefunden und wartet mit mir. Nach wiederholtem Klopfen öffne ich die Holztür zur Produktionshalle. Die Maschinen laufen nicht, nur eine Lüftung rauscht. „Blauer Montag“ – gilt das auch hier? Die Redewendung „blauer Montag“ soll aus der Praxis des Textilfärberwesens entstanden sein: die gefärbten Stoffe wurden in einer letzten Phase des Färbevorgangs an der Luft getrocknet, wobei erst in dieser Phase durch Oxidierung die blaue Färbung entsteht. Weil die Blaufärber in dieser Phase mit der Arbeit pausiert hätten, wäre aus dem technischen Vorgang des Blaumachens ein allgemeinsprachlicher Ausdruck für „Nichtstun“ entstanden, und auch der Ausdruck Blauer Montag soll hieraus abzuleiten sein, weil der Montag der übliche Tag für diese Phase des Blaufärbens gewesen sei. Auf meine Hallo-Rufe meldet sich niemand. Ich verlasse den Raum wieder, und wundere mich, dass die Tür offen ist. Hier im Prättigau scheint es noch üblich zu sein, dass man die Türen nicht abschliesst. Inzwischen haben sich die Wolken verzogen und die Sonne blendet in dieser zauberhaften Winterlandschaft, so dass ich die Augen zusammenkneifen muss.
Seit unserem ersten Besuch geht uns die Wollspinnerei und -färberei nicht mehr aus dem Kopf. Und wir sinnieren über das Produkt, welches dort hergestellt wird, den Faden. Der rote Faden - in Hochseetauen ist er eingearbeitet, eine Art Markierung. Wozu dient ein Faden? Er hat keinen klaren Auftrag. Er ist ein Ding im Wartezustand, ein Ding dazwischen, zwischen Knopf und Jacke zum Beispiel. Er verbindet den Knopf mit der Jacke, aber ohne die beiden, ist und bleibt er nur ein Faden. Als „roter Faden“ steht er für das Mittel der Verbindungen und Zusammenhänge verschiedenster Genres unterschiedlichster Couleur. Und sollte der Faden einmal verloren gehen, kann er wieder aufgenommen werden. Der rote Faden sorgt dafür, dass der Sinn nicht verloren geht. Der Faden schafft Beziehungen, Verknüpfungen, Netzwerke schlechthin.
Wieder in Bern, erkunden wir uns über die Produktionsbedingungen der Fadenherstellung bei der Wollspinnerei und -färberei Vetsch in Pragg-Jenaz. Ein das Prättigau umspannender „roter Faden“ aus der Wollspinnerei könnte ein „das Museum in Bewegung, 14 Räume für die Kunst“ verbindendes Element sein, und die einzelnen Gemeinden und ihre Künstler damit umgarnen. Wir entwickeln die Idee, besorgen uns ein Kartenrad, um die Wanderwege auf der 1:25000er Landkarte virtuell abzuschreiten und die Distanzen zu übertragen. Ein hundert Kilometer langer Wollfaden soll von uns – einem roten Faden gleich – wandernd durchs Prättigau gelegt werden, von Gemeinde zu Gemeinde, bis alle beteiligten Ortschaften miteinander verbunden sind. Die Wollspinnerei Vetsch bekommt die Anfrage, aus der Wolle von einheimischen Schafen einen hundert Kilometer langen Wollfaden zu spinnen und diesen rot einzufärben. Dafür braucht man ca. 60 Kilogramm Schafwolle. Das Scheren eines Schafes ergibt etwa drei bis vier Kilogramm Wolle. Also braucht man die Wolle von fünfzehn bis zwanzig Schafen. Die gesamten Herstellungskosten des einhundert Kilometer langen „roten Faden“ belaufen sich auf dreitausend Franken. Am 17. April liegt ein voluminöser, aber leichter Briefumschlag im Postkasten in Bern. Das Muster eines roten, wetterfesten Wollfadens ist eingetroffen, versehen mit der erfreulichen Zuschrift von Herrn Vetsch, eine solch wunderliche Anfrage hätte er nun doch noch nie erhalten, er würde sich aber über Erteilung des Auftrages sehr freuen. Wir legen sofort den Faden in unserem Garten aus, testen ihn auf Reissfestigkeit und Wetterbeständigkeit... und erteilen den Auftrag.
Und haben nun endlich auch eine Lösung, wo und wie man uns Künstler aus Jenaz begegnen kann: Im Prättigau. Man stifte mit einem Beitrag von hundertfünfzig Franken symbolisch die Wolle eines Schafes und begleite uns auf fünf Kilometern des „Prättigauer Rundweges“ beim Auslegen des roten Fadens. Mit zwanzig Sponsoren ist das Projekt finanziert.

Sonntag, 3. Februar 2008

Der Ort als Gedanken-Wandelhalle

Jenaz_030208
Von Peter perfekt eingewiesen, gingen wir erst mal Mittagessen ins Restaurant/ Hotel Sommerfeld in Pragg-Jenaz. Dort findet man in einer traditionellen, unprätentiös dekorierten Stube eine hervorragende Küche vor, und dies zu einem Preis, der einem das Essen in keinster Weise verdirbt. Sommerfeld liegt an der Hauptstrasse in dem eingemeindeten Ortsteil Pragg.
Dann bergwärts Richtung Jenaz trifft man auf eine sehr beeindruckende Maschinerie: Hier wird Bündner Schafwolle gesponnen. Über mehrere Walzen und Rechen wird die Wolle immer feiner, bis sie zu dünnsten Fäden gesponnen wird. Gleich daneben gibt es (noch nicht allzu lange) eine Werkstatt mit imposanten Webstühlen. Sonia Luck und 2 Kolleginnen weben hier die Bündner Wolle zu sehr schönen Teppichen zeitgenössischen Designs, in die Fellteile von Ziegen und Steinböcken eingewoben werden. Der Spaziergang führt dann durch das guterhaltene Pragg (imposante Holzbauweise) nach Jenaz (unterwegs sieht man auch ein Haus, das vermutlich dem Countryclub-Präsidenten zuzuordnen ist), wo wir mit dem Gemeindepräsidenten Urban Mathis und Gemeindeschreiber Eggimann ein inspirierendes erstes Gespräch hatten. Was so sehr angenehm nachklingt ist, dass die anfängliche Zurückhaltung einer immer grösseren Öffnung wich, ein gegenseitiges Interesse geweckt ist, viele Ideen und Informationen in dieses Gespräch einflossen. Interessant dabei vor allem der Aspekt des Raumes: Ging die Gemeinde zunächst von einem konkreten, zu bespielenden Raum aus (mit dazugehörendem Schlüssel und entsprechenden Pflichten und Verantwortlichkeiten), wurde gleich die ganze Gemeinde mit Gemeindegrenze geschildert und das war der eigentliche Gedanken-Raum. Konkret wurde uns dann noch das alte Schulhaus gezeigt, wo wir - nach Absprache - selbstverständlich ein Klassenzimmer für unsere Arbeit nutzten können. Wo zuerst wenig Raum ist, ist jetzt ganz viel und selbstverständlich Raum. Es zeigt sich einmal mehr, dass das persönliche Gespräch durch nichts zu ersetzen ist. Und das Konzept geht auf: Nicht eine wie immer geartete "Kunst-Möblierung" wird hier erwartet, sondern der Gemeindepräsident, wie auch der Gemeindeschreiber waren unseren Schilderungen gegenüber sehr offen, vorerst einmal "nur" zu flanieren, Jenaz als Gedanken-Wandelhalle zu begreifen.