Mittwoch, 15. Oktober 2008

Traubenzeit

Jenaz_26.–28.09.08_Präsentation_Apéro

Bei spätsommerlichem Wetter (oder ist nun doch schon Herbst?) hängen wir die Kleinplakate für den Apéro an die paar über die Gemeinde verstreuten Anschlagbretter. Einmal sind sie an einem Schuppen, ein ander Mal direkt an Hauswände montiert. Übersät mit Heftklammern, Reisnägeln und kleinsten Papierfetzen künden die verwitterten Bretter von vergangenen Veranstaltungen. Hier findet sich der Seniorennachmittag neben der Ankündigung für das Dorftheater, die Pragger Buramusik hängt neben einem Plakat mit böse drein blickenden Männern in Leder- und Nierenkluft der Heavy-Metal Band Judas Priest (dass es die noch gibt, die gabs ja schon in den 70ern!!!). Vereinzelt finden sich aber auch Vermisstanzeigen von weggelaufenen Büsis oder halbgewerbliche Angebote von Landmaschinen. Ein Biker-Club plant eine zweitägige Pässefahrt und wir planen den Apéro, an dem wir die Bevölkerung über unser Vorhaben informieren wollen.

Auf unserem Spaziergang durchs Dorf stellen wir fest, dass vom ausgelegten Faden bis auf ein paar Fragmente nicht mehr viel zu finden ist. Obwohl wir vom Gemeindepräsidenten Urban Mathis informiert worden waren, dass unser Projekt nicht von allen Gemeindemitgliedern in gleichem Masse geschätzt wird, sind wir nun doch etwas irritiert. Wir sind froh, inzwischen die Gewissheit zu haben, dass der ausgelegte Faden keinerlei Risiko für Vieh und Wild darstellt. Laut Auskunft der Wiederkäuerklinik Bern fressen Kühe zwar unselektiv, der Faden werde aber mit Sicherheit beim malmen brechen. Und Dr. Brosi, Leiter des Amtes für Jagd und Fischerei Graubünden schätzt das Risiko für das Wild oder auch für Kleintiere als äusserst gering ein. Es käme schon mal vor, dass die Tiere mit Abzäunungsbändern spielen (dieses seien allerdings aus Plastik und daher reissfest), sich darin verhaspeln, er sieht aber bei dem Wollfaden nun wirklich keine Bedenken, wichtig sei einfach, dass der Faden locker ausgelegt, also nicht gespannt sei. Wir stellen uns vor, wie jemand den Faden aufgewickelt haben muss und halten schmunzelnd Ausschau nach dem ersten Paar blutrot gestrickter Socken. Um 11 Uhr haben wir uns mit Herrn Pfarrer Hesse verabredet, um uns und unsere Arbeit vorzustellen. Es ergibt sich ein angeregtes und interessantes Gespräch. Wir erfahren, warum die Kirche ausserhalb des Dorfes liegt, vermutlich eine sehr frühe Einsiedelei, erfahren aber auch, dass in Jenaz die Kirchgänger nicht mehr sehr zahlreich sind, die Gewohnheiten hätten sich eben geändert, unsere Generation fahre lieber an den Gardasee oder habe andere Verpflichtungen. Wir bitten Pfarrer Hesse, den Apéro in der Kirche anzukündigen, wozu er gerne bereit ist.  

Am Samstag arbeiten wir im alten Schulhaus und bereiten unsere Präsentation vor. Wiederum sind wir angetan von der Ruhe und der Atmosphäre, die das Schulzimmer ausstrahlt. Wir legen Bildmaterial und Texte zum Thema „Faden_Zeit“ aus und präsentieren das „Jenazer Taschentuch“ und unsere Edition mit Anteilschein zum roten Faden. Im Auftrag der Gemeinde kaufen wir Wein, Käse und Brot. Das verschafft uns auch Einblick in einen imposanten Käsekeller: Im „Schlössli“ - einem städtisch anmutenden Palais inmitten stattlicher Strickhäuser - wird in den Kellergewölben, hinter dicken Mauern Käse von den Jenazer Alpen Alpnova und Larein gelagert. Frau Luzi führt uns durch die Gewölbe, erklärt uns die verschiedenen Reifestadien der Käse und erzählt vom Haus und dessen Erbauer.

Am Sonntag nun ist es soweit. Die Fenster werden noch mit Transparentfolien beklebt, auf denen sich Wörter wie „Zeitkappe“, „Fadenzähler“ und „Zeitirrlicht“ vor die Landschaftsausschnitte schieben. Der Um Viertel nach elf treffen die ersten BewohnerInnen von Jenaz im alten Schulhaus ein. Nach einer kurzen Einführung – wie immer schweifen wir auch ab – erläutern wir unsere „Faden_Zeit“, unsere verschiedenen Vorhaben. Auffallend, besonders in dieser Jahreszeit, sind ja in Jenaz die üppigen und liebevoll gepflegten Gärten. Und so planen wir ab nächstem Jahr auch einen gärtnerischen Beitrag zu leisten, in dem wir eine Rekonstruktion von Carl von Linnés Blumenuhr in einem Jenazer Garten anlegen. Am Öffnen und Schliessen der Blüten verschiedener Blumen nämlich kann man die Tageszeit ablesen: Sandmohn, Reiherschnabel, Sommeradonis, Ackergauchheil, aber auch Ringelblume, Habichtskraut, Zaunwinde und Pfingstnelke sind Zeitanzeiger. 

Wir erläutern aber auch, woher der Begriff des „roten Faden“ stammt (als eine Art Markierung wurden in die Seile der britischen Marine rote Fäden eingedreht) und berichten von unserem Plan, ein Hochseetau der Werft in Szczecin (PL) nach Marseille, also vom baltischen Meer ans Mittelmeer zu transportieren, und wir eventuell eine Station mit dem Tau in Jenaz einplanen. Auch haben wir durch einen glücklichen Zufall vier Tage zuvor an der Preisverleihung für Peter Trachsel einen Gewährsmann kennengelernt, der uns beredt Auskunft geben konnte über den Frachter, der den Namen der Gemeinde Jenaz trägt: „Maersk Jenaz – Sailed from Auckland Australia on September 14 with destination Balboa (Panama Canal) where she is expected to arrive September 29. The ship is presently in navigation in the South Pacific Ocean at about one day of navigation time until she will be passing between South of Galapagos and Equator. She is loaded with 1089 containers out of which 7 are empty and 360 are refrigerated. 21 crew members + 2 cadets on board. Master: Captain José Luis Schaefli, born 1960, swiss national, residing in Argentinia“. 

Diese erste offizielle Begegnung mit der Bevölkerung war – wie wir finden – eine sehr schöne Zusammenkunft. Vieles wurde erst jetzt greifbar, und zur Erheiterung trug dann auch Urban Mathis mit launigen Worten bei – ihm gefalle das Projekt, gäbe es doch genug und auch Amüsantes zu reden.